Gewohnheitskleber und Freigeister – vom Mut, sich zu lösen

Wir haben alles, was wir brauchen – und vieles, was wir gar nicht benötigen. Uns geht es gut, warum sollten wir am Gegenwärtigen rütteln? Wir sind frei, so scheint es jedenfalls, wozu also noch Freigeister oder Inspirationen zu einem „Leben als Freigeist“? Weil ein Freigeist nicht nur Gewohntes hinterfragt sowie Impulsgeber für andere und anderes sein kann, weil er sich zuweilen dem entziehen will und kann, was in der Gegenwart schiefläuft (und das ist einiges), weil er Neues anstrebt, um Zukünftiges mitzugestalten.

Gewohnheiten – das unsichtbare Netz

Ein großer Dorn im Auge des Freigeistes sind die Gewohnheiten; es sind so viele, die wir so sehr lieben und in denen wir es uns gemütlich eingerichtet haben. Oder haben die Gewohnheiten uns zugerichtet? Oft wollen wir nichts an ihnen ändern, selbst wenn sie uns daran hindern, Unbekanntes zu entdecken, andere Wege zu gehen und neue Ziele anzustreben.
Wir sind „Gewohnheitskleber“: Unsere Gewohnheiten haben uns im Griff – wie in einem Spinnennetz, das uns eingesponnen hält. Klingt übertrieben? Beim genaueren Hinsehen zeigt sich, dass wir tatsächlich in einem unsichtbaren Netz zappeln – gesponnen von vielem und vielen. Wir hängen fest, weil wir uns an dies und das gewöhnt haben, weil Bequemlichkeiten uns lähmen, Eingefahrenes einmal anders oder gar nicht zu tun. Oft sind es keine großen Dinge, sondern kleine Verhaltensmuster, kleine Sicherheiten, die uns binden.

Doch anders als bei einem echten Spinnennetz ist es uns möglich, sich zu befreien. Wir können uns aus diesem „Gewohnheitennetz“, aus den Verstrickungen von Selbstverständlichkeiten, (selbst auferlegten) Zwängen und Abhängigkeiten lösen. Ja, wir haben uns an all das gewöhnt – an das Selbstverständliche, an das Bequeme, an das Vorgegebene. Aber es lohnt sich, diese Verstrickungen zu durchschauen und sich diesen Schritt für Schritt zu entziehen. Es ist im wahrsten Sinne des Wortes befreiend, sich von den Fäden der Gewohnheit zu lösen.

Ansprüche und Erwartungen – das leise Gift der Abhängigkeit

Zu unseren stärksten Gewohnheiten gehören Anspruchs- und Erwartungshaltungen – unsere eigenen und die anderer. Allzu oft erwarten wir, dass andere unsere Probleme lösen, Verantwortung übernehmen, Dinge regeln; es gibt immer jemanden, der „zuständig“ sein soll. Doch genau das schafft Abhängigkeiten, die uns unmerklich klein halten.
Das Wegschieben von Verantwortung hat großes Gewöhnungspotenzial. „Sollen doch erst einmal die anderen etwas machen … etwas ändern … ihren Hintern hochbekommen … den ersten Schritt wagen …“, diese und ähnliche Sätze sind täglich zu hören. Aber Veränderung beginnt nicht bei „den anderen“. Wenn jeder vor seiner eigenen Haustür kehrt, ist die ganze Nachbarschaft sauber – und dieses einfache Prinzip gilt im Kleinen wie im Großen.

Immer mehr zu wollen, nimmt Freiheit

Weil um uns herum alles Mögliche vorhanden ist, es von vielem viel zu viel gibt, erwarten wir, dass auch das vorrätig oder erhältlich sein muss, was wir gerade brauchen (oder auch nicht brauchen). Fehlt etwas, soll es schnellstmöglich beschafft werden. Wir sind es gewohnt, dass Bedürfnisse sofort befriedigt werden können. Doch dieses „Immer-Mehr“ bindet uns. Unser Konsumverhalten – das Haben-Wollen, das Vergleichen, das Streben nach Neuem – erzeugt Abhängigkeit und nimmt Freiheit, nicht weil Dinge an sich schlecht sind, sondern weil das ständige Wollen uns Zeit und Aufmerksamkeit raubt. Und beides – Zeit und Aufmerksamkeit – kann sinnvoller genutzt werden.

Meisterhaft im Unzufrieden-Sein

Wenn unsere Ansprüche und Erwartungen nicht erfüllt werden, macht sich oft eine weitere Gewohnheit bemerkbar: Unzufriedenheit. Wie an unser aller Ansprüche haben wir uns auch ans Meckern gewöhnt. Das Beschweren auf hohem Niveau ist zu einer Lieblingsdisziplin geworden – wir sind, ohne es zu merken, meisterhaft im Unzufrieden-Sein. Dabei täte es uns und unserem Miteinander gut, einfach einmal mit dem zufrieden zu sein, was ist, was wir haben. Zufriedenheit bedeutet nicht Stillstand, sondern Dankbarkeit für den Moment. Sie öffnet den Blick für das, was bereits vorhanden ist, anstatt nur auf das zu schauen, was fehlt.

Ungestillter Erlebnisdurst

Fast unmöglich scheint es für viele von uns, einmal nichts zu erleben – gar nichts. Wir leben in einer Erlebnisgesellschaft, in der Stille und Untätigkeit unbehaglich wirken. Wir haben uns daran gewöhnt, dass immer etwas passiert, dass wir unterhalten, bespaßt, beschäftigt werden.
Das Ruhen, das Alleinsein, das einfache Dasein – das haben wir verlernt. Wir rennen Erlebnissen hinterher, suchen nach dem nächsten Impuls, nach der nächsten Ablenkung, nach dem nächsten Kick. Doch damit geben wir etwas Kostbares auf: die Fähigkeit, uns selbst zu genügen. Wer lernt, Ruhe zu genießen, wer sich erlaubt, mit sich selbst zu sein, entdeckt eine andere Art von Freiheit – eine, die unabhängig ist von äußeren Reizen, Ablenkungen oder Erwartungen.

Freiheit beginnt mit Bewusstheit

Wir müssen nicht alle Gewohnheiten verwerfen, vielmehr sollten wir uns ihrer bewusst sein, als unbewusst in ihnen gefangen zu bleiben. Nicht selten reicht es schon, morgen nur eine kleine Gewohnheit zu ändern: den Tag ohne Blick aufs Smartphone beginnen, einen anderen Weg gehen, auf eine Erwartung verzichten. In solchen Momenten zeigt sich, was Freiheit wirklich bedeutet. Denn Freiheit beginnt selten laut. Oft ist sie nur ein leises Lösen – von etwas, das uns lange festgehalten hat.

Von Sven Henkler ist weiterführend zum Artikel dieses Buch erschienen:

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... (Jg. 1975) ist seit über 20 Jahren Verleger von Büchern rund um Bewusstsein, Lebensführung, Philosophie und Spiritualität. Seine Leidenschaft gilt Buchprojekten, die zum Nachdenken anregen, Perspektiven erweitern und die Essenz des Lebens erfahrbar machen. In den letzten Jahren ist das Schreiben wieder zu seinem eigenen Ausdruck geworden. Seine Texte handeln von Selbstbestimmung, Naturverbundenheit und der Wirkkraft der Mythologien. Dabei geht es ihm nicht um fertige Antworten, sondern um das Öffnen von Räumen – für Entwicklung, für Tiefe, für ein bewussteres Leben.

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